Frost by Bernhard Thomas

Frost by Bernhard Thomas

Autor:Bernhard, Thomas [Bernhard, Thomas]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-01-14T05:00:00+00:00


SECHZEHNTER TAG

Ich möchte unbedingt festhalten, daß Strauch heute nacht einen Traum gehabt hat, »einen Traum«, sagte er, »einen Traum, der mit allen meinen Träumen nicht das geringste gemeinsam hatte. Ich muß Ihnen sagen, es war der Traum des Überunglücks, der Traum des Aufhörens, des einfach überwältigenden Aufhörens. Ich träumte eine Farbe, das allerdings unterscheidet diesen Traum nicht von meinen anderen Träumen, meine Träume, müssen Sie wissen, beginnen alle mit einer Farbe, wie ich annehmen muß, mit einer Grundfarbe, mit einer der drei, vier – kann ich sagen: vier? – Grundfarben; dann entwickelte sich dieser Traum rasch, unendlich zielstrebig in das Zwischenverhältnis aller Farben zu allen Farben, dahinein, wo alle Farben dieselbe Bedeutung haben, alles noch tonlos, bis in die Dunkelheit der Farben hinein, in die Finsternis ebenso wie in das Licht hinein, tonlos, geräuschlos, dann plötzlich, sich steigernd, zu einem Geräusch werdend, zu einem einsam linearen Geräusch, dann: die Geräusche gewannen in dem Maße, in dem die Farben verloren, plötzlich war dieser Traum, was ihn grundlegend von meinen übrigen Träumen unterscheidet, nur mehr Geräusch, um nicht sagen zu müssen: Musik, was in diesem Falle unzutreffend ist, vollkommen abwegig, irreführend, ein Geräusch war da, wie es schien, ohne Anfang und ohne Ende, war da und entwickelte sich zu einem unheimlich geltungsbedürftigen Infernalischen, ich kann es nicht anders ausdrücken, die Formulierung versagt mir, müssen Sie wissen, selbst über den Krämpfen des Nachgedächtnisses versagt mir die Formulierung, ein Geräusch, dann ein ungeheurer Lärm, dann ein solcher ungeheurer Lärm, daß ich nichts mehr hörte: in diesem Raum, der ein unendlicher Raum war und ist, einer der vielen unendlichen Räume (eine Vorstellung, die mich immer zu zerstören beabsichtigt!). In diesem Raum, in dem plötzlich Weiß und Schwarz gleicherweise viehisch verzogen, von einer amusikalisch-himmlischen Macht verzogen, brüllten, taumelten zwei Polizisten, taumelten ohne Anhaltspunkt, taumelten plötzlich zu dritt, taumelten, ich kann nicht sagen schwebten, taumelten wie in den Fängen eines alles umfassenden, erdachten, schamlosen Schnürbodens, in dem schamlosen, erdachten, alles umfassenden Schnürboden der Unendlichkeit ...«

Gegen Abend setzte ein Schneetreiben ein, ich sah Wellen von Schnee an das Fenster schlagen. Hatte sich zuerst das Fenster verfinstert, weil das Schneetreiben sich ankündigte, war es dann plötzlich, als das Schneetreiben einsetzte und mit aller Wucht auf das Gasthaus losging, ganz hell, alles überzogen von Weiß. Ich las in der Zeitung von Menschen, die etwas forderten, von Menschen, die etwas wußten, von anderen, die weder etwas forderten noch etwas wußten, von Städten, die versanken, von Himmelskörpern, die nicht mehr fern sind.

Die Wirtin war im Haus, ihre beiden schulaufgabenschreibenden Töchter saßen in der Küche.

Der Wasenmeister macht seine Runde, dachte ich, der Ingenieur gibt seine Befehle über dem Flußwasser.

Der Pfarrer sitzt im Pfarrhof, der Metzger in seiner Schlachthausfinsternis.

Der Schuster fährt mit dem Daumen die Naht entlang.

Der Lehrer zieht die Vorhänge zu und hat Angst.

Alle haben sie Angst. Ich dachte an Schwarzach.

Auf einmal stehe ich wieder im Operationssaal, hebe den und den toten Kopf auf. Fahre mit dem Aufzug hinunter in den Keller um zwei Krückstöcke und wieder hinauf, in den dritten Stock, wo einer die Krückstöcke braucht.



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